N. 187 | 2018

Gedanken ... ein Stadtspaziergang

die besonderheit von dingen

wir möchten sie auf einen stadtspaziergang durch urbino einladen, vorbei an einem kleinen cafe an der piazza pascoli. ein cafe, wie es so typisch ist für italien. ein raum, der eigentlich viel zu klein ist für die masse an menschen, die dort ihren heißen espresso zu sich nehmen, angeregt diskutieren und teils wild gestikulieren. die eigenschaften des ortes: eng und laut. nicht gerade begriffe, die einem zur beschreibung eines angenehmen ortes als erstes in den sinn kommen. und doch herrscht diese einzigartige atmosphäre in dem cafe, die sich gerade durch die genannten faktoren auszeichnet. das kleine cafe wird als symbol für die italienische lebensfreude angesehen, als etwas „besonderes“. eine besonderheit, die die fähigkeit besitzt, ein gefühl oder eine bestimmte stimmung in uns auszulösen. doch was ist diese besonderheit? was macht sie aus? warum empfinden wir orte, situationen und dinge als besonders? es muss also faktoren geben, die in der lage sind rahmenbedingungen zu schaffen, die besondere situationen zulassen, oder sie sogar auslösen. faktoren, die dafür sorgen, dass an einen bestimmten ort eine bestimmte atmosphäre herrscht. vielerorts liegen diese faktoren noch im verborgenen, es gilt sie zu identifizieren und zu lokalisieren. wir wollen diesen faktoren auf den grund gehen, das verborgene suchen, es zu tage fördern und zu einem neuen ganzen ergänzen. gemeinsam mit ihnen ist es unser ziel, einen ort zu schaffen, der als ein besonderer ort in erinnerung bleibt.

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objekt und ort

die wirkung des objekts ist dabei eng verknüpft mit dem ort, an dem es anzutreffen ist. denken wir einmal mehr an das kleine cafe zurück. würde uns dieses cafe genauso in erinnerung bleiben, wenn es nicht direkt an der piazza pascoli liegen würde, im schatten der mächtig wirkenden kathedrale und des palazzo ducale? würden wir die enge des cafes, die in diesem fall als qualität anzusehen ist, gar nicht als so „eng“ wahrnehmen, wäre da nicht dieser gewaltige maßstabssprung? würde durch das wegnehmen des kontextes,die majestetischen bauwerke, die zahlreichen einheimischen, das rege treiben, nicht die ganze qualität des cafes verloren gehen? oder gegensätzlich betrachtet: welche qualität hätte die piazza ohne dieses cafe? würde nicht auch sie einen beträchtlichen teil ihrer qualität einbüßen, gäbe es keinen ort zum verweilen? es lässt sich also festhalten, dass eine wechselseitige beziehung zwischen einerseits dem objekt und andererseits dem konkreten ort vorhanden sein muss. eine fundamentale wie ursprüngliche fragestellung drängt sich dabei auf: verändert das objekt die wahrnehmung des ortes oder inszeniert der ort das objekt? hierauf wird es wohl keine eindeutige antwort geben können, im besten falle jedoch verschwimmt die klare abgrenzung der wahrnehmung von objekt und ort und ein neues ganzes entsteht.

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die kraft der erinnerung

bleiben wir noch einen moment bei dem kleinen cafe. seit dem besuch
ist schon einige zeit vergangen, aber immer noch ist der geruch des frisch gemahlenen cafes präsent. die hocker, abgenutzt, aber gerade deswegen mit ihrem ganz besonderen charme. das dunkle, fast schwarze holz an den wänden, das die enge des raumes noch um ein vielfaches
verstärkt, und die alten lampen, die die besucher wie eine bühnenbeleuchtung inszenieren. erinnerungen, die einen sofort wieder in die damalige situation zurückversetzen, aber auch erinnerungen, die keine objektiven abbilder sind. es sind einzelne aspekte, fragmente, die sie prägen, besonders eindrückliche dinge oder momente. erinnerungen, deren kraft sich genau aus dieser bruckstückhaftigkeit ergibt. es findet eine romantisierung der begebenheiten statt, verbunden mit einer fokussierung auf das prägende und gleichzeitig eine abstrahierung dessen. vor diesem hintergrund sind erinnerungen weit mehr als ein schieres zurückdenken an vergangenes. sie bergen das potential, das heutige in bezug mit dem vergangenen zu setzen und als anknüpfungspunkt von assoziationen gefühle auszulösen. gefühle, die vielschichtig sind, sich aus dem vergangenen speisen und von einer neuen interpretation dessen getragen werden.

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assoziation und symbolik

wie zuvor beschrieben sind assoziationen zwangsläufig verbunden mit erinnerungen. marcel proust beschreibt zu beginn seiner romanreihe „auf der suche nach der verlorenen zeit“ den moment, als ein junger mann an einem kalten wintertag in frankreich ein stück gebäck in seinen kaffee tauchte, was ihn unmittelbar in seine kindheit zurückversetzte. erinnerungen an seine behütete kindheit, das dorf in dem er aufwuchs, an seine tanten und die madelaines, die er immer zum frühstück aß. die erinnerung stellte sich durch eine analogie, eine ähnlichkeit der gebäcksstücke zueinander ein. unser tägliches leben ist geprägt von analogien und assoziationen. ständig begegnen wir dingen, die uns an vergangenes erinnern. dabei sind assoziationen stark abhängig von erfahrungen und erinnerungen, aber auch vom kulturellen kontext, den gesellschaftlichen rahmenbedingungen, der geschichte und den orten, in denen wir uns aufhalten. mit diesem wissen sehen wir die nutzung von analogien und symbolen als chance, um objekte zu entwerfen, die assoziationen hervorrufen. objekte, deren atmosphärischer reichtum zusätzlich durch die kraft der erinnerung getragen wird und die den kontext, die nutzung und den ort mit seiner geschichte so deuten, neu interpretieren und weiterschreiben, dass sie im besten falle selbst zum symbol werden.

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